Beschleunigung als soziales Phänomen
Wozu späte Autofahrten gut sein können: Im September 2009 habe ich in den Funkhausgesprächen bei WDR5 eine interessante Gesprächsrunde zum Thema “Beschleunigung” gehört.
Die Thesen eines der Diskutanten, des Soziologen Hartmut Rosa von der Universität Jena, haben mich recht lange noch beschäftigt (so habe ich unter anderem auch einmal Einblick in seine Habilitationsschrift “Beschleunigung - Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne” genommen); ein Punkt daraus, soweit ich das richtig verstanden habe:
Wir nehmen den Fortschritt in der Moderne als sich ständig höhere drehende Anforderungen an unsere geistige Verarbeitungskapazität wahr. Wenn wir nicht innert Stunden auf eine E-Mail reagieren, werden Absender nervös. Ständig kommen von überall Nachrichten und Mitteilungen auf uns zu. Wir leben in einem ständigen Gefühl des Überfordertseins aufgrund einer wahrgenommenen Beschleunigung in unserer Welt. Dabei ist jedoch zu sehen, dass es zwar technologischer Fortschritt sein kann, der bestimmte Handlungsweisen erst möglich macht: So erreiche ich viele Orte erst mit dem Flugzeug in akzeptabler Zeit. E-Mails sind schneller zugestellt als die Schneckenpost. Aber, so eine wichtige These, das Gefühl der Beschleunigung ist zu einem großen Teil ein soziales Phänomen. Mit der schnellen E-Mail, um bei diesem Beispiel zu bleiben, verändert sich das Kommunikationsverhalten und die -konventionen: Dass man eben schnell auf eine E-Mail antwortet und sich nicht wie früher bei einem Brief mehr Zeit lässt. Oder anders gewendet: Die Technik erlaubt uns, heute mehr E-Mails zu schreiben als früher Briefe und schneller zu kommunizieren. Statt nun diesen Produktivitätsfortschritt zu nutzen und die gewonnene Zeit mit Müßiggang zu verbringen, schreiben wir deutlich mehr E-Mails, müssen mehr Nachrichten verarbeiten, werden ggf. sogar wie Push-Diensten auf dem Mobiltelefon mit der elektronischen Post versorgt und fühlen uns zunehmen gehetzt und überfordert. Und Ausbrechen wird nicht so einfach, da uns irgendwann sonst die sozialen Brücken zu unserem Umfeld verloren gehen.
Insgesamt ein spannendes Thema und ich habe aus den von mir gelesenen Arbeiten von Hartmut Rosa sehr viel gelernt, insbesondere öfter nach den sozialen Ursachen bestimmte Entwicklungen zu fragen und diese zu analysieren. Eine reine Technikzentriertheit führt hier (wie auch an anderen Stellen bspw. des Internets) nicht zum Ziel.
Weitere Links zu einem Interview mit der Zeit (sowie einem Schwerpunktthema zur Wiederentdeckung des Nichtstuns) und zu Harmuts Rosas Homepage bei der Universität Jena: